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Keramik und die Form der Zeit

Auf den ersten Blick ist es nichts als eine schlichte weiße Keramikschale, unglasiert und zerbrechlich. Angelika Lill-Pirrung hebt das Gefäß aus einem großen Karton und reicht es mir. Wir sitzen in ihrem Atelier in Erligheim, einer kleinen Ortschaft in der Nähe der ehemaligen württembergischen Residenzstadt Ludwigsburg. Draußen im Garten duftet der Lavendel in der Sommerhitze. In dem historischen Bauernhaus, das die Künstlerin mit ihrem Mann vor einigen Jahren zum Wohnhaus mit Atelier umgebaut hat, ist es angenehm kühl. Das Einschlagpapier raschelt. Angelika Lill-Pirrung packt eine Schale nach der anderen aus. Es sind 52 an der Zahl, jede wiegt exakt 250 Gramm, alle sind im Jahr 2005 entstanden – allerdings jede in einer anderen Woche. Darauf bezieht sich der Titel der Arbeit: „52 W“ (Bild 1), wobei „W“ für „Wochen“ steht. Die meisten Schalen enthalten ein kleines persönliches Erinnerungsstück: Einen Flaum Schafwolle, eine Akupunkturnadel, eine Blüte – Schale für Schale ein Tagebuch aus gebranntem Ton.

 

Zuerst fallen mir nur die kleinen Abweichungen in der Form auf, die Unterschiede in der Höhe und Breite der Öffnung, die mal glattere, mal gröbere Oberfläche. Die Überraschung kommt, als ich zwei Schalen in die Hände nehme. „Sie wirken unterschiedlich schwer, nicht wahr?“ bemerkt die Künstlerin. So ist es tatsächlich. Die Zeit scheint in den Gefäßen ihr Gewicht hinterlassen zu haben. Erklären kann man das nicht – oder vielleicht doch: Zeit ist unsichtbar, aber fühlbar.

 

Zeit und Erinnerung spielen in vielen Arbeiten Angelika Lill-Pirrungs ein Rolle. Intuitiv greift die Künstlerin immer wieder zu Formen, die kulturgeschichtlich mit diesen Themen verbunden sind. Eine dieser Formen ist die Stele.

 

Bereits in der griechischen Antike wurden freistehende, schlanke Formen genützt, um an Ereignisse oder herausragende Menschen zu erinnern. Auch Angelika Lill-Pirrung tut das. Allerdings auf heitere und spielerische Weise, indem sie Keramikstelen mit Fundstücken krönt. Bei diesen Fundstücken handelt es sich meist um alte und verwitterte Werkzeuge aus Holz oder Metall. Etliche hat sie auf Flohmärkten gefunden. „Es ist nicht der Gegenstand an sich, es sind die Gebrauchspuren, die diese Dinge interessant machen. Sie erzählen von den Menschen, die sie in den Händen hatten“, erklärt die Künstlerin.

 

Dieses Bewusstsein für die Vergangenheit der Gegenstände spielt unter anderem in der Arbeit „Spindeldürr“ (Bild 2) eine Rolle. Angelika Lill-Pirrung hat hier alte Holzspindeln auf schlanke, weiße Tonstelen montiert. Die makellose Keramik-Oberfläche hat sie mit weißer und schwarzer Schafwolle umwickelt. Eine Anspielung auf den ursprünglichen Zweck der Spindel. Zugleich entsteht durch die Kombination der Materialien und Formen etwas ganz Neues: Die Spindeln verwandeln sich auf ihren umwickelten Stelen in eine Delegation extravaganter, „spindeldürrer“ Wesen .

 

Dieses liebevolle Spiel mit Bedeutungen, die Transformation vom Einst ins Jetzt, der fast unmerkliche Übergang von Ernst zu Heiterkeit, ist charakteristisch für das plastische Werk Angelika Lill-Pirrungs. Es findet sich in zahlreichen Arbeiten, darunter den Stachelwesen (Bild 3), den „Spiralwesen“ (Bild 4) oder den Flügelwesen (Bild 5).

 

Eine feste Bedeutung gibt es nicht. In ihrem künstlerischen Schaffen geht Angelika Lill-Pirrung intuitiv vor. Es macht ihr Freude, den Deutungen der Betrachter zuzuhören.

 

Das Thema Zeit tritt nicht nur unter den Aspekten Erinnerung und Vergänglichkeit im Werk der Künstlerin zu Tage. Auch die andere Seite der Medaille ist vertreten: das Elementare, Ewige.

 

Spürbar wird es unter anderem in den zwischen 20 und 50 cm hohen Tonstelen „Little Stonehenge“ (Bild 6), die Angelika Lill-Pirrung seit vielen Jahren in immer neuen Varianten herstellt. Sie sind allesamt in Rakutechnik gebrannt. Bei dieser in Japan entwickelten Technik wird die Keramik bei ca. 1000 C° Hitze mit Zangen aus dem Ofen genommen und in Kisten mit Sägemehl oder anderen brennbaren Materialien gelegt. Durch die Sauerstoffreduktion und die vor dem Brand aufgebrachten Oxide, entstehen verblüffend farbige, metallisch schimmernde Oberflächen. Die Keramik als irdisches Element geht durch Feuer, Luft und Wasser. Das fasziniert die Künstlerin. „Ich bin jedes Mal überrascht, wenn ich die gebrannten Stücke aus der Kiste heraus nehme. Man kann das Ergebnis nur zum Teil beeinflussen. Es sind die Elemente, die ihre Spuren auf den Stelen hinterlassen“, bemerkt sie. Nach dem Brand hat sich die Oberfläche vollkommen verändert. Nicht nur die Farbe, auch der Geruch ist intensiv. So stellt man sich Meteoritengestein vor. Fremd und geheimnisvoll. Und doch bleibt die keramische Form in ihrem Kern irden und erdverbunden.

 

„12 M“ (Bild 7) ist die letzte Arbeit, die ich mir an diesem Nachmittag im Atelier anschaue, ist zugleich diejenige, die mich am tiefsten berührt. Wieder konfrontiert Angelika Lill-Pirrung die Keramik als Ausgangsstoff mit einem Material, das in gewisser Weise elementaren Charakter besitzt: mit Bienenwachs.

 

Die Serie schließt thematisch an „52 W“ an. „M“ steht für Monate. Anstelle von Schalen verwendet die Künstlerin hier Keramikformen mit menschlichen Konturen. Es ist sicher kein Zufall, dass sie an ägyptische Sarkophage erinnern. Jeden Monat hat Angelika Lill-Pirrung eine Form mit Erinnerungsstücken gefüllt – und sie am Ende in Holzkästen in Wachs versenkt. Die menschliche Figur wird zum Behältnis der Erinnerung. Flüchtig geht es mir durch den Kopf, dass ja auch der Mensch selbst, im biblischen Sinne, aus Ton geschaffen ist. In Angelika Lill-Pirrungs Arbeit sind Kanten der Keramik gerade noch erkennbar. Fotos, Eintrittskarten, Notizzettel schimmern unter der weißen Schicht. Anderes ist in den Tiefen des Wachsbettes versunken.

 

Der Garten liegt immer noch in der Sonnenglut, als wir ein paar Stunden später wieder ins Freie treten. Die Sonne ist am Himmel ein wenig weitergerückt. Als ich den Heimweg antrete, fühle ich mich, als hätte ich eine Reise unternommen.

 

Angelika Brunke ist Kunsthistorikerin und hat Ihre Magisterarbeit über das Thema "Historische Bilderrahmen" geschrieben. Sie arbeitet als Freie Journalistin in Stuttgart.