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Eröffnungsrede "Feuer - Farbe - Fäden"

So wie für Christina Frey Spuren in der Natur wichtig und inspirierend sind, die besagten Spuren im Sand, Flugspuren am Himmel, so sind es für Angelika Lill-Pirrung Spuren der Zeit und Gebrauchsspuren, die für sie den ganz wesentlichen Impuls und Reiz fürs Arbeiten setzen. Spuren sind immer ein Zeichen von Existenz.

 

Die „illustren Gestalten“ hier vorne zeigen wiederum deutlich handwerkliche Spuren. Diese Skulpturengruppe ist eine ganz wichtige für die gebürtige Saarländerin Angelika Lill-Pirrung, die aber schon fast 30 Jahre in Baden-Württemberg lebt und nun in Erligheim wohnt. Begonnen hat sie die Werkgruppe 2000 und setzt sie bis heute immer wieder fort, mit bis zu 50 cm hohen Tonstelen. Der Ton wird in der japanischen Rakutechnik, also bei enormer Hitze gebrannt, etwa 1000 Grad. Durch die massive Sauerstoffreduktion und die Oxide entstehen leicht farbig-schimmernde Oberflächen, der Ton wird außerdem zusammengeschlagen und alles in allem ergeben sich eigenwillige Formen und Farben, fremdartig und geheimnisvoll. Vertikal auf Metallsockel montiert und teilweise bereichert durch Drähte wie Haare oder Antennen, wirken diese eigentlich ganz und gar abstrakten Formen dann doch wieder ein wenig figurativ, wie eine kleine Einheit. Wobei: Jede ist anders, sie sind eben nicht uniform. Die illustren Gestalten sind komplett handgefertigt, doch bei den Antennenhaaren spielt bereits die große Leidenschaft der Künstlerin für Fundobjekte hinein, wie sie dann bei den weiteren Skulpturengruppen hier die wesentliche Rolle spielt.

 

So begegnet Ihnen hier vorne jene Gruppe, die sie auch schon auf dem Flyer oder dem Plakat gesehen haben, es sind die jüngsten bildhauerischen Werke der Künstlerin. Skulpturen, die aus mehreren Materialien zusammengefügt sind – und uns doch alle sofort an Figuren erinnern: Ein Fuß, ein schmaler Korpus und ein Kopf mit jeweils wilder Frisur. Angelika Lill-Prirrungs Vorgehensweise ist jedoch genau umgekehrt, als ich jetzt diese Figurinen beschrieben habe. Denn ausschlaggebend ist der Kopf – es sind allesamt gefundene natürliche Materialien – und so sagen oder fragen diese Figuren mit ihrem Titel: Natürlich – schön? Das hübsche Haupt besteht aus vier Palmblättern oder -strunke und einmal Papyrus – diesen einen Ausreißer dürfen sie gerne suchen... Sie wirken exotisch, doch sie entstammen alle dem Mittelmeerraum, wo sich wohl die meisten von uns schon mal bewegt haben dürften. Letztlich staunen wir bei allen fünf Formationen über die mal wieder unfassbare Vielfalt der Natur, die diese Gebilde zustande bringt. Tote Pflanzenmaterie, der die Künstlerin aber neues Leben einhaucht, indem sie sie dann mit einem tönernen und hölzernen Korpus versieht und einen Metallfuß hinzufügt. 
Neben dem Haupt könnte der hölzerne Unterkörper ihre Aufmerksamkeit erwecken, denn er weist auffällige Ritzungen auf, Rillen, die aber keiner bestimmten Richtung zu folgen scheinen. Auch dies sind vorgefundene Materialien, nämlich Sägehölzer vom Steinmetz – daher die unterschiedlichen Ritzungen. 
Solch ein Sägeholz in seiner langen und nicht geschwärzten Version begegnet Ihnen auch bei dieser zentralen Skulpturengruppe. Mit diesem Korpus fällt er auf – und tatsächlich entstammt er einer anderen Werkgruppe als die anderen fünf, er hat sich untergemischt und fragt laut Titel: Auf gleicher Wellenlänge? Dies mutet wie eine Frage zu den anderen fünfen an und ist zugleich ein Wortspiel mit dem anderen Bestandteil, welches hier nun quasi den Kopf markiert: Sie sehen dort Drähte wie Haare abstehen von – was? Können Sie es erkennen oder haben Sie eine Idee? Ein altes Welleisen vom Frisör!

 

Auch die anderen fünf Skulpturen mit dem Titel Wächter – sie stehen hier also sehr passend gegenüber des Eingangs – also auch die Wächter bestehen aus Dingen, die Angelika Lill-Pirrung auf Flohmärkten auftat, weil sie ihre Form spannend und anregend fand: Ein Waschbrett – was einen unweigerlich schmunzeln lässt ob der Assoziation Waschbrettbauch – dann in der Mitte zwei Zapfhähne von Weinfässern – Schluckspechte möchte man gleich rufen – und auf den weißen Körpern zwei bisher undefinierte Fundobjekte; also, wer hier helfen kann bei der Identifikation wende sich bitte direkt an die Künstlerin! Die Körper wiederum bestehen aus Fund-hölzern, die sie hier und dort gesammelt hat und zum Teil ergänzt hat, etwa bestehen die Knöpfe der Wächter– passenderweise – aus Jahreszahlen, die auf Weinkorken standen. Diese übrigens nicht gefunden – sondern selbst getrunken. Ein spielerischer und doch auch ernster Umgang mit ehemaligen Bedeutungen und neuen Zuordnungen, also eine Trans-formation von Einst und Jetzt, von Erinnertem und Gegenwärtigem, von Ewigkeit und Vergänglichkeit bilden die Basis ihres plastischen Werks.

 

Da passt es sehr schön, dass vor 100 Jahren das Ready Made in die Kunst kam, auch object trouvée genannt, also Fundobjekt. Das meint, kurz gesagt, einen Gegenstand, den der Künstler nicht selbst hergestellt hat, meist ein Massenprodukt, welches der Künstler aber für seine Arbeit auswählt. Marcel Duchamp erklärte radikal, dass es in Kunst nicht allein um Handwerk, sondern um eine geistige Tätigkeit geht und nahm einenFlaschentrockner (1915) – ein damals in Frankreich übliches Haushaltsutensil – oder ein ebenso gängiges Pissoir (1917), drehte diese Dinge um, stellte sie aus – und erklärte sie so zur Kunst. Ein revolutionärer Akt. Heute nun gehört das ready made oder Fundobjekt zum festen Bestandteil sehr vieler Bildhauer, eben auch bei Angelika Lill-Pirrung. Dem Gewohnten, in gewisser Weise auch gewöhnlichen einen eigenwilligen Charme zu verleihen – das wiederum ist eine große Kunst! Etwas Vorhandenes, Altvertrautes nehmen und durch Hinzufügen einer weiteren Komponente in etwas anderes, etwa neues verwandeln. Das Alte ist noch da, auch mit gewissen Erinnerungen verbunden, aber auch ganz neue Assoziationen entstehen.

 

So finden Sie nebenan im ersten Raum noch zwei weitere Pärchen; viel Freude beim Erkunden der Materialien. Und im hinteren Raum begegnet Ihnen die Werkgruppe der „Spindeldürren“: Haben Sie schon eine Idee, was hier das Grundmaterial sein könnte? Es sind alte Spindeln von Flohmärkten in der Provence und sie gaben das Thema vor, wie ja auch der Titel besagt: Jede Spindeldürre Skulptur ist mit einem Garn oder Stoff ummantelt und bekrönt, darunter Rohwolle, Häkelgarn, Filz. Hier kulminiert auf schönste Weise eine Verbindung auch zu den Miniaturtapisserien der Künstlerkollegin Christina Frey. Doch tun sich noch mehr Verbindungen auf. So sind einige der Spindeldürren nicht nur ummantelt, sondern regelrecht eingewickelt, Verschnürt. Etwas verpacken, verschnüren, was es bereits gibt...das erinnert an Christo. So entsteht aber ein neuer, verpackter Eindruck, unsere Sinne werden auf andere Dinge gelenkt und geschärft. Den Skulpturen Angelika Lill-Pirrungs haftet die Aura des Gebrauchten an, die Dinge tragen eine Geschichte mit sich, das spürt man. Aber sie sind eben eindeutig auch im Hier und Jetzt verortet durch die gestalterischen Maßnahmen und Umdeutungen seitens der Künstlerin.

 

So arbeitet sie auch in ihre Gemälde bereits vorgefundene Materialien ein und montiert sie wiederum in eine neue Welt, ähnlich ihrer Skulpturen. Drei Bilder der Serie „Aufbruch“ sehen Sie hier neben mir. Dabei handelt es sich um Materialcollagen, also viele verschiedene Ebenen, die das schlussendliche Bild ergeben. Die Basis ist Acrylfarbe, in vielen Schichten aufgetragen und in unterschiedlicher Textur, also mal flüssiger, mal deckender. Außerdem finden Sie bei allen dreien einen Stoff, mit Blumenmuster, integriert. Dieser textile Anteil verbindet natürlich die Werke der beiden Künstlerinnen sehr schön. Aber: Angelika Lill-Pirrung benutzt wiederum gebrauchte Stoffe, hier ein zerschnittenes Kleid. Es ist auch hier wichtig, dass die Materialien ihre eigene Geschichte mit sich bringen, etwa auch ein Spitzenstoff der Großmutter, hier rechts oben in der Ecke. Und: Diesen Stoff hat die Künstlerin nur als Abdruck ins Bild integriert, also eine Decollage, d.h. der Stoff ist wieder entfernt worden und hat dergestalt eine Spur im Bild hinterlassen – wie sicherlich auch die Großmutter im Leben der Enkelin. Spuren des Gebrauchs, des Verfalls, der Zeit schieben sich irritierend und zugleich faszinierend auch in Form von Textfragmenten in den Blick des Betrachters. Und diese versucht man ja unwillkürlich zu entziffern. So lassen sich ganz rechts afrikanische, in der Mitte asiatische und links südfranzösische Collageteile erkennen, die sich vielsagend mit dem Titel „Aufbruch“ zu verbinden scheinen.

 

Diese Vorgehensweise sehen Sie auch bei den anderen Bildern, als da wären hier direkt neben der Eingangstür und an dieser Wand ganz außen zwei Arbeiten der Serie „Auf zu neuen Ufern“. Während Sie bei dem Bild neben der Tür noch eine Haussilhouette erkennen, ist es dort links ein Boot, und tatsächlich vollzog sich während dieser Werkserie der Wandel hin zum Boot als neuem Leitmotiv ihrer Gemälde. So finden Sie denn in all den Bildern hier an der Wand Boote, mal deutlicher, mal versteckter. Groß in Szene gesetzt bei diesem Bild hier, dem neuesten, das Angelika Lill-Pirrung erst kürzlich geschaffen hat. Die Farbpalette hat sich verändert, die Vorgehensweise nicht. Vielleicht fließt die Farbe mehr als in den anderen Bildern, was ja auch zum Motiv des Bootes passend erscheint. Auch hier sind es viele Schichten, die das Bild leicht transparent erscheinen lassen und vor allem – wie hier überall – viel Tiefe verleihen. Die Bilder haben eine bemerkenswerte Räumlichkeit, sie machen gar nicht den Anschein von flachen, zweidimensionalen Bildträgern. Da macht sich sicherlich bemerkbar, dass der Malerin Angelika Lill-Pirrung vom Dreidimensionalen kommt und die Skulptur bei ihr ja immer auch parallel entsteht.

 

Denn noch stärker ist dieser Eindruck bei den kleinen Boot-Bildern, von denen Sie im Nebenraum vier ausgestellt finden. Mit Wachs und Tusche erzeugt die Künstlerin eine Transparenz, die eine tiefe Räumlichkeit ergibt. Wir sehen mehrere Schichten, also ein Dahinter und ergo auch ein Davor, was nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Ebene eröffnet. Und wer mag nicht angesichts der Boote und der Titel wie „Aufbruch“ und „Auf zu neuen Ufern“ auch an die aktuelle Flüchtlingssituation denken? Doch auch dies ist nur EINE Spur, eine mögliche Lesweise, denn die Bilder an sich sprechen eine ganz pure Sprache, die der Farbe, der Form. Spuren machen eben neugierig, und Angelika Lill-Pirrung setzt genau sie in Szene und regt dergestalt unsere Fantasie an. Bei mir weckt es das Fernweh, endlich mich wieder selbst „Auf zu neuen Ufern“ zu machen, zu reisen und dann vielleicht eine „Bootstour“ zu unternehmen und „Spuren im Sand“ zu hinterlassen. Also Landschaften und Kulturen zu entdecken und neue Eindrücke zu gewinnen.

 

Dr. Petra Lanfermann