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Von der genauen Beobachtung zur gültigen Form

Angelika Lill - Pirrungs Ausdrucksweite reicht von karikierender Leichtigkeit bis zu einer berührenden Behandlung elementarer Seinsfragen. Ebenso originär wie originell lässt sie den Betrachter an ihren unterschiedlichen Beobachtungen und der sich daraus ergebenden niederschriftlichen Kunst teilhaben.

 

Material, Form und Inhalt

Betrachten wir die schlanken Stelen, auf denen manche ihrer Figuren aufruhen, so zeigen sie sich keineswegs als Ergebnis eines gestalterischen Eingriffs: sie haben erst einmal als Unterlagen beim Sägen ihren Dienst getan. Die Qualität solcher gewachsenen Strukturen hat Lill - Pirrung entdeckt und genutzt. 
Auf solche nicht intendierten aber äußerst wirksam expressiv wirkenden Hölzer sind Figuren aufgesetzt, die sich durch eine ungewöhnliche Haartracht auszeichnen. Das führt sie so weit, dass damit unterschiedliche Persönlichkeiten, ja Temperamente ausgedrückt werden. Es ergibt sich eine Variabilität von höchst weiblicher Kodierung. Vom Afrolook bis zur Hochfrisur, von einer scheinbar vom Blitz Getroffenen bis zu einer eher Untertänigen vermag Lill - Pirrung so ziemlich alles auszudrücken, was weibliche Haartracht bezeichnend machen mag. 
Im Werk von Lill - Pirrung finden wir auch kleine Stelen aus Ton. Sie werden von allerlei Spiraligem bekrönt. Das Innere einer Muschel gesellt sich zu einer Spindel, die wiederum von einer ansteigend angeschnittenen Kerze begleitet wird. Die Stelen selbst unterscheidet die Künstlerin farblich und umgibt sie mit einer individuellen Umkleidung, so dass eine Gruppe aus Individuen entsteht. 
In einer anderen Werkgruppe wird auf eine solche Individualisierung verzichtet, da sie sich zu einem Gemeinsamen aufgestellt hat. Hier leitet ein Dirigent einen Chor aus Choristinnen und Choristen, deren Kopfpartie vordem ihren Dienst als Fensterbeschlag getan hat. Jetzt sind sie spitzmäulige Sängerinnen und Sänger, die sich zu einem Pianissimo zusammengefunden haben mögen. Es wäre vergnüglich, diese Gruppe zu vermehren, denn dann ließe sich unterschiedliches Verhalten wie z. B. Unaufmerksamkeit oder Hingabe an den Dirigenten oder nebenmusikalischen Verhalten wunderbar darstellen. 
In den bisher näher bezeichneten Werkgruppen – „Haartracht“, „Spiralen“ und „Chor“ – wird der Umgang mit Menschlichem und Allzumenschlichem von der Künstlerin mit feiner Beobachtungsgabe, freundlichem - humorbegabtem Verständnis und in klug gewählter künstlerischer Form vorgetragen.

 

Abzweigungen

Verlassen wir diese Werkgruppen, so stoßen wir auf eine schwarz eingefärbte Stele gleicher Sägeunterlagenherkunft. Sie wird bekrönt von einem vormals landwirtschaftlichen Gerät. Durch die demonstrative Position drängt sich uns die Assoziation zum Gehörn der kuhköpfigen ägyptischen Göttin Hathor auf. Hier wird demnach ein altes Motiv neu entdeckt und das Ergebnis der Arbeit Lill - Pirrungs besticht mit seiner hoheitlichen Ausstrahlung und durch die bedeutungsvolle Ruhe, die es ausstrahlt. Picasso hat das mit seinem berühmten Stier vormals auch entdeckt und ursprünglich und genial gestaltet.
Einen tieferen Sinn in Bezug auf ein Anderes und Tiefergehendes vermittelt stellt die Künstlerin in einer Folge von waagrecht angeordneten Kästen vor , die unter Beobachtung der jeweils inliegenden Umrissform als Särge identifiziert werden können. Faszinierend, dass Lill - Pirrung in diese Formen Wachs einbringt, in eine erste Schicht ein Fundstück einfügt, eine weitere Schicht mit einem weiteren Relikt darüber legt und so einen Tiefenraum sichtbar macht, der Zeitlichkeit ausdrückt. Das Personale wird durch das organische Material „Wachs“ vermittelt, so wie es schon Beuys intelligent nutzte. 
Die verschiedenen Kästen stehen für verschiedene Menschen, denen Funde zugeordnet werden, wie sie z. B. bei der Auflassung eines Nachlasses oder beim Ausräumen immer wieder aufgefunden werden. Sie bezeugen etwas aus dem Leben des Verblichenen - ob wichtig oder unwichtig, aber eben noch vorhanden - und bleiben: bis sie sich in ihrer Bedeutungslosigkeit für andere auflösen. Lill - Pirrung erhält sie als ein persönliches Angedenken, bevor es sonst von uns allen verloren und vergessen wird. 
Mit dieser Installation zeigt Lill – Pirrung eine tiefgründige autonome Arbeit, die sich selbst genügt, weil sie zwar in hohem Maße sammlungstauglich ist, aber einem allgemeinen Ausstattungsgeschmack wohl eher nicht entspricht. Mit dieser Arbeit erreicht die Künstlerin aber konsequent ein Eigenes, das künftig in ihrem Werk eine zentrale Rolle spielen wird. ©

 

Prof. Dr. Helge Bathelt, M.A.